«Es liegt uns am Herzen, dass die Zeitung an Relevanz gewinnt, in Politik und Wirtschaft die grossen Themen besetzt, sie durchdringt, sie erklärt, sie kommentiert.» Marc Walder, CEO Ringier AG
NZZ am Sonntag: Stellen Sie sich vor, Verleger Michael Ringier hätte Sie 2012 als Interimschef von Ringier eingesetzt. Hätten Sie das geschätzt?
Marc Walder: Ich hätte das Angebot angenommen. Ad interim eingesetzt zu werden, bedeutet die Chance, sich zu beweisen.
Interimslösungen bergen die Gefahr, dass jemand verheizt wird. Das ist beim «Blick» nun geschehen. Sie ziehen der Chefredaktorin nach einem halben Jahr den Sessel weg – und sie verlässt das Unternehmen nun ganz.
Interimslösungen sind nicht grundsätzlich schlecht. Wenn der Chef der hierarchisch organisierten «Blick»-Redaktion abtritt, brauchen Sie sofort einen Ersatz. Dieser erhält die Chance, zu beweisen, dass er der Richtige ist. Andrea Bleicher ist nicht verheizt worden. Was hingegen zutrifft: Durch die öffentliche und hitzige Debatte, die nach einem Artikel in der «NZZ am Sonntag» entstanden ist, hat am Ende niemand gewonnen. Der «Blick» kam in die Schlagzeilen wegen eines Briefes von Newsroom-Kaderleuten an mich, die sich für Frau Bleicher einsetzten. Wir haben ihr ein sehr gutes Angebot unterbreitet. Sie hat es abgelehnt. Das bedaure ich.
Warum haben Sie einen neuen Chefredaktor für den «Blick» gesucht?
Der «Blick» muss in vier Bereichen stark sein: im Sport, bei den klassischen News, in der Unterhaltung, was Stars und Events einschliesst, und in Wirtschaft und Politik. In den ersten drei Bereichen ist der «Blick» stark und themenführend. Aber in Wirtschaft und Politik und bei gesellschaftspolitischen Fragen hat mich das Blatt unter der Führung von Frau Bleicher nicht überzeugt. Das habe ich ihr auch so mitgeteilt. Der «Blick» sollte bei Themen wie der 1-zu-12-Initiative, dem Steuerstreit mit den USA und Deutschland oder der aktuellen Debatte ums EU-Recht führend und prägend sein, um drei Beispiele zu nennen. Die Stimme des Blattes war in der Schweiz wenig zu hören. Das muss sich ändern. Der «Blick» soll unterhalten. Aber auch relevant sein.
Die interimistischen Lösungen liegen an Frank A. Meyer. Die graue Eminenz von Ringier will aus Berlin beobachten, wie sich ein Chefredaktor macht. Dann hält er den Daumen nach oben oder unten.
Sehen Sie: Ringier ist ein in 14 Ländern tätiger Milliardenkonzern mit 8000 Mitarbeitern. Wir haben präzis definierte Prozesse, wie Entscheide gefällt werden müssen, bis hinauf zum Verwaltungsrat. Dass René Lüchinger Chefredaktor des «Blicks» wird, haben – nach dem Durchlauf durch die Gremien – schliesslich Verleger Michael Ringier und ich entschieden. Frank A. Meyer war nicht involviert. Meines Wissens kennt er Lüchinger noch nicht einmal persönlich.
Meyer brachte damals als Erster den Input, Persönlichkeiten von der «Bild»-Zeitung zu holen für die Leitung des «Blicks». Das ist richtig. In der Schweiz ist es nicht so leicht, Chefredaktoren und Blattmacher für Boulevardzeitungen zu finden. Was ist die Rolle von Meyer bei Ringier? Er ist der wichtigste Journalist, der je in diesem Haus gearbeitet hat, und er schreibt im «Sonntags-Blick» die wohl lesenswerteste Kolumne des Landes – seit Jahrzehnten. Man muss nicht immer einverstanden damit sein, aber sein Handwerk beherrscht der Mann. Meyer ruft oft an. Alle, die ihn kennen, wissen: Er debattiert, er kritisiert, er begeistert. Und manchmal nervt er. Wunderbar. Das ist Meyers Rolle. Entschieden wird in den Gremien.
Wäre Bleicher mit Meyer die Spree entlangspaziert und hätte mit ihm über die Rolle des Citoyens in der globalisierten Welt debattiert, wäre sie nun definitiv Chefredaktorin des «Blicks».
Nein.
Warum kommen und gehen die Chefredaktoren des «Blicks» ebenso oft wie die Trainer eines Fussballklubs?
Es gibt einige Ringier-Publikationen, die schon lange von derselben Person geleitet werden – «L’Hebdo», «Il Caffè», «Glückspost», «Blick am Abend». Aber klar: Tageszeitungen stehen wirtschaftlich unter grossem Druck. Und als «Blick»-Chef ist man stark exponiert in der Öffentlichkeit – es ist ein wenig der Bayern-München-Effekt. Dazu ist der Job aufreibend, kräftezehrend, die Präsenzzeit ist hoch, die Verantwortung ebenso. Das trägt zu den häufigen Wechseln bei.
Warum wird nun René Lüchinger Chefredaktor des «Blicks»?
Es liegt uns am Herzen, dass die Zeitung an Relevanz gewinnt, in Politik und Wirtschaft die grossen Themen besetzt, sie durchdringt, sie erklärt, sie kommentiert. René Lüchinger hat grosse Erfahrung in diesem Bereich. Und er bringt mit Andreas Dietrich einen Vizechef mit, für den dies genauso zutrifft. Lüchinger pflegt ausserdem, was mir stets wichtig ist, einen integrativen Führungsstil.
Lüchinger hat in den letzten Jahren seine Tätigkeit als Journalist vermischt mit kommerziellen Interessen; diese ergeben sich aus seiner Firma, die Geschäftspublikationen verfasst. Die Aufhebung der journalistischen Unabhängigkeit passt zu Ringier, weil sie im Medienunternehmen auch stattfindet.
Sie machen eine plumpe Unterstellung. Lüchinger tritt seine Stelle bei uns erst am 1. Januar 2014 an, weil er noch Mandate in seiner Firma zu beenden hat; dann wird er damit nichts mehr zu tun haben. Das war eine Bedingung, die ich ihm gestellt habe.
Ringier vermischt Journalismus und Kommerz. Sie haben den Trainer der Fussballnationalmannschaft, Ottmar Hitzfeld, unter Vertrag genommen. Wie soll da ein Sportjournalist des «Blicks» nicht befangen sein, wenn er über ihn schreibt? Ringier berichtet nicht nur über Gölä, sondern organisiert seine Konzerte und verkauft dafür die Tickets.
Der «Blick» schrieb unlängst, Hitzfeld verlängere seinen Vertrag mit dem Fussballverband. Der Artikel war inhaltlich nicht korrekt, und Hitzfeld hat sich darüber aufgeregt. Zu Recht. Das Beispiel zeigt: Es ist nicht so, dass Ringier-Journalisten bevorzugt behandelt werden, nur weil Hitzfeld mit dem Unternehmen einen Berater-Vertrag abgeschlossen hat. Ein anderes Beispiel: Wir haben breit über das Konzert von Robbie Williams in Zürich berichtet, obwohl Good News, unsere Tochterfirma, das Konzert nicht organisiert hat. Gerade weil wir unter verschärfter Beobachtung stehen, leisten wir uns keine Fehler. Die journalistische Unabhängigkeit unserer Journalisten ist gewährleistet.
Mit der Unterhaltungssparte von Ringier erzielen Sie nur acht Prozent des Konzernumsatzes, aber die Kritik an der Vermischung von Interessen bleibt. Wäre es nicht besser, Sie würden auf diesen Geschäftszweig verzichten?
Der Anteil des Entertainment-Bereichs am Gesamtumsatz ist noch nicht so hoch, aber mit der Gewinnmarge sind wir sehr zufrieden. Wir werden bald auch in unseren osteuropäischen Ländern Tickets verkaufen. Die mit Presse-Inseraten erzielten Umsätze sinken – von dieser Entwicklung sind alle betroffen. Das zeigen die soeben veröffentlichten Halbjahreszahlen aller Medienhäuser. Also diversifizieren wir. Im Unterhaltungsbereich ist uns das gelungen, auch bei den Kleinanzeigen im Internet. Ich denke an unsere grossen Investitionen in jobs.ch oder die Scout24-Gruppe.
Im Unterhaltungsbereich fehlt Ihnen ein Fernsehsender. Sind Sie nach wie vor an 3+ interessiert?
Wir haben ins Fernsehen investiert, bei Sat.1 Schweiz und EnergyTV. Aber, richtig: TV würde unsere Strategie ideal ergänzen. Dominik Kaiser, der Gründer und Inhaber von 3+, hat sehr vieles richtig gemacht. Nun muss er sich überlegen, was es braucht, um mit seinem Sender den nächsten, grossen Schritt zu machen.
Sie haben es als «Ursünde» bezeichnet, dass die Medienunternehmen Inhalte im Internet gratis verbreiten. Die Einführung einer Bezahlschranke verzögert sich bei Ringier aber. Wann kommt sie?
Ich nenne keinen Zeitpunkt. Der Grundsatz, dass guter Journalismus im Internet nicht gratis sein kann, bleibt unbestritten. Die Verzögerung hat einen Grund: Wir wollen den Menschen, die ein digitales Abonnement kaufen, ein umfassendes Paket anbieten. Ich denke an zusätzliche Dienstleistungen. Für Ringier ist das nichts Neues. Früher haben wir zum Beispiel Lebensversicherungen angeboten.
Wer für die Online-Ausgabe der deutschen «Bild»-Zeitung bezahlt, kann sich die Tore der Fussball-Bundesliga anschauen. Denken Sie an so etwas?
Es ist zu früh, um das Servicepaket öffentlich zu umreissen. Für den Journalismus allein Geld zu verlangen im Internet, ist schwierig. Man sollte dem Kunden etwas Zusätzliches, Sinnvolles anbieten.
Sie haben erklärt, dass Sie wieder als Chefredaktor arbeiten wollen. Das ist Koketterie.
In einem Team von Journalisten an einer Publikation zu arbeiten, die ein grosses Publikum interessiert, ist eine wunderbare Aufgabe. Nicht die nächsten Jahre. Aber vielleicht irgendwann.
Eine gute Gelegenheit, Chefredaktor des «Blicks» zu werden, haben Sie verpasst.
Ja. Ich hätte mit Frank A. Meyer die Spree entlangspazieren sollen.