«Wir hinken den Amerikanern bei der Digitalisierung unserer journalistischen Produkte um zwei Jahre hinterher.» Marc Walder, CEO Ringier AG
Ein Besuch in New York kann viele neue Erkenntnisse bringen, die Beobachtung schärfen und neue Energie freisetzen. Marc Walder, dem Vorstandsvorsitzenden des Schweizer Medienkonzerns Ringier (mit Titeln wie Blick, Cash, Cicero), ist das so gegangen. Ein paar Tage hat er in Amerika verbracht und in Manhattan mit beinahe allen gesprochen, die zu der Branche etwas Relevantes zu sagen haben. Wieder zurück in Zürich, steckt der ohnehin sportlich-drahtige Walder voller Tatendrang – und ist getrieben von Sorge.
«Die Zeitungen stehen unter Druck», leitet er das Gespräch ein, was ein Allgemeinplatz ist, aber dramatische Auswirkungen hat. In der Schweiz wie in Deutschland sinken Auflagen und Reichweite der Zeitungen, Personal wird abgebaut, sowohl in den Redaktionen als auch in den Verlagen. Walders Punkt aber ist, dass die europäischen Medien alsbald von den Amerikanern überrollt werden könnten, und zwar auch auf ihren Heimatmärkten. «Wir hinken den Amerikanern bei der Digitalisierung unserer journalistischen Produkte um zwei Jahre hinterher», sagt Walder. Dort wisse man, wie digitaler Journalismus heute funktioniere, in Europa hingegen nicht. Der Medienprofi redet Klartext: «Die Radikalität des Vorgehens der Amerikaner hat man in Europa noch nicht erkannt», findet er.
Walder zieht seine Unterlagen hervor und nennt in schneller Folge, beinahe alarmistisch, fünf Punkte, die in seinem Haus wie auch in allen anderen Verlagen des Kontinents sofort begriffen und adressiert werden müssten. «Erstens: Alles bewegt sich auf einen ausschließlich mobilen Zugriff auf unsere digitalen Angebote zu. Zweitens: Soziale Medien müssen viel stärker genutzt werden, um unsere Inhalte zu verbreiten.» Drittens gelte es, viel stärker auf Videoformate zu setzen als bisher. «Viertens: Die Werbung muss kreativer werden. Die sogenannte Display-Werbung im Internet ist – radikal gesagt – tot. Die Zugriffsraten für die Werbebanner rund um die Inhalte stimmen nicht, die Preise erst recht nicht.» Es gelte, über kreative Formen gesponserter Inhalte nachzudenken: «Ich weiß, dass das in vielen Häusern bisher als schwierig gilt, wahr ist aber, dass selbst die ‚New York Times‘ darüber nachdenkt.» Als fünften Punkt nennt Walder, gleichsam als Klammer für das zuvor Gesagte, den Zwang zu erheblichen weiteren Investitionen in die Technologie. «Der Bedarf hierzu wird in Europa bisher nicht erkannt. Der Erfolg von digitalem Journalismus basiert ganz wesentlich auch auf Technologie, auch wenn man dies hier nicht gerne hört.»
Fachleute für soziale Netzwerke gehören in die Mitte des Newsrooms
Das sehe in Amerika anders aus. «Neue Wettbewerber wie Buzzfeed oder die ,Huffington Post‘ nehmen dort Millionen in die Hand, um ihre technische Basis zu modernisieren und ins Ausland zu expandieren. Das wird denen von den Investoren auch ganz deutlich gesagt.» Wenn die europäischen Verlage nicht investierten, weil sie dazu finanziell schon nicht mehr in der Lage seien oder noch immer nicht den Willen hätten, ihre verbliebenen Kräfte für diese Investitionen zu mobilisieren, «dann kommen die großen Amerikaner und werden es tun». Die zwei Jahre Vorsprung der Vereinigten Staaten in der digitalen Welt sind «kritisch für Europa». Entsprechend wichtig sei es, schnell darauf zu antworten. Gelinge der Sprung in die neue digitale Welt mit Social-Media-Einbindung und erheblich stärkerer Videonutzung nicht, drohe den klassischen europäischen Medienmarken Bedeutungsverlust und damit einhergehend die Möglichkeit, mit dem Angebotenen auch Geld zu verdienen. «Die europäischen Konzepte der Newsrooms, in denen Zeitungen und die zugehörigen Internetangebote produziert werden, sind schon wieder überholt», sagt Walder. Es gelte, Fachleute für soziale Netzwerke wie Facebook oder Instagram oder Twitter, für Videos, für die Analyse der Nutzerdaten in Echtzeit unter dem Stichwort „Big Data“ und die zugehörige Technologie in die Mitte der Newsroom-Teams zu setzen. «Wenn wir das nicht machen, haben wir keinen modernen Newsroom.» Das sage er durchaus selbstkritisch. «Ein weiteres – substantielles – Problem wird es in Europa sein, dafür die richtigen Leute zu finden», befürchtet Walder.
Die Macht von Buzzfeed und Huffington Post
Hat der Ringier-Chef mit Blick auf das, was sich in den internen Abläufen ändern muss, also schon klare Vorstellungen, klingt die Antwort auf die Frage, wie das Geschäftsmodell hinter diesen Angeboten aussehen soll, tastender. Sicher ist für Walder, dass es bei den wesentlichen Einnahmequellen Werbung und dem Geld, das für die Inhalte gezahlt wird, bleiben wird. Allerdings müsse man bei der Werbung viel experimentierfreudiger und offener gegenüber neuen Formaten werden. «Zum anderen glaube ich nicht, dass Abomodelle, die einen Preis für alles verlangen, was von einer Redaktion angeboten wird, der Weisheit letzter Schluss sind.» Es gelte, den Lesern Informationsangebote zu machen, die genauer auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten seien. «Individualisierung ist die entscheidende Frage bei der Monetarisierung der Inhalte», sagt Walder. Zugleich müsse sichergestellt sein, dass sich diese neuen, individuellen Angebote durch hohe Benutzerfreundlichkeit auszeichneten. Daraus leitet Walder seiner Kernforderung an sein Haus und die anderen europäischen Medienhäuser ab: «Der nächste Investitionsschritt muss jetzt kommen!» Gegen welche Macht man antrete, zeige die jüngste Investition, die sich Buzzfeed in Amerika gesichert habe. „Andreessen Horowitz hat 50 Millionen Dollar investiert. Das bewertet das Unternehmen jetzt mit 850 Millionen Dollar. Die haben jetzt mehr als 500 Mitarbeiter, und noch vor drei Jahren hatte die noch niemand auf dem Radar. Das Tempo ist horrend!“ Das Ziel heiße eindeutig Auslandsexpansion, und vorstellbar seien dabei Märkte wie Indien, Russland oder eben auch Deutschland. Das Gleiche gelte für die „Huffington Post“, die in Deutschland und manchen anderen Ländern schon vertreten sei. Zudem sei die „Huff Po“ ein gutes Beispiel für den Erfolg von Videos innerhalb von Nachrichtenangeboten. «Huffington Live ist in seinen ersten 18 Monaten von 0 auf 1 Milliarde Zugriffe hochgeschnellt», schwärmt Walder. Buzzfeed wiederum schaffe rund 400 Millionen Videozugriffe im Monat. Sehr viel besser müsse man in den europäischen Medienhäusern auch in Fragen der Optimierung der Texte werden. Dabei gehe es nicht, so wie bisher, vor allem darum, in Suchmaschinen ganz oben in der Trefferliste zu landen. Vielmehr müssen die Texte für Social-Media-Dienste wie zum Beispiel Twitter, Facebook oder Instagram jeweils ganz unterschiedlich aufbereitet werden.
Bestehen kann nur, wer zugleich die journalistische Qualität hält
Das gelte sowohl für Sprache und Aufbau als auch für die Präsentation und die jeweils zu nutzende Überschrift. Dass diese Veränderungen mit großer Geschwindigkeit erfolgen müssten, müsse auch den Journalisten klar sein, die seit langer Zeit im Beruf tätig seien und an liebgewonnenen Gewohnheiten im Umgang mit ihren Texten festhielten. Sie müssen nach der Auffassung von Walder zunehmend bereit sein, in der Artikelpräsentation mit Profis außerhalb ihres Metiers zusammenzuarbeiten. «Was passiert, wenn man die Umstellung auf die Erfordernisse einer neuen Zeit nicht schafft, zeigen in der Unternehmenswelt Beispiele wie Polaroid, Kodak, Nokia oder Blackberry: Großartige Unternehmen, die sich zu lange am Bestehenden festkrallten.» Nachzulesen seien die Abläufe, die dahintersteckten, in einem Buch wie „The Innovators Dilemma“ von Clayton Christensen. Der Ringier-Chef fordert die Journalisten auf, selbst auf sozialen Netzwerken aktiv zu werden, dort für ihre eigenen Text zu werben und in einen Dialog mit dem Nutzer zu treten. «Die Journalisten müssen doch daran interessiert sein, ihre Texte in so ein wunderbares Schaufenster zu stellen. Es kann doch nicht sein, dass einem so etwas gleichgültig ist.» Grundsätzlich gelte im Umgang mit Social Media die Erkenntnis, dass es viel wertvoller sei, wenn ein Text von Dritten persönlich weiterempfohlen werde als von dem Algorithmus einer Suchmaschine. Ein anderes Buch, das Walder in diesem Kontext anführt, ist „Tipping Point“ von Malcolm Gladwell. Darin werde untersucht, warum ein Produkt auf einen Schlag erfolgreich sei – und ein anderes plötzlich nicht mehr. Und die Verlage müssten mit ihren Titeln reagieren, solange die jeweilige Marke ihre Strahlkraft noch nicht verloren habe. «Ringier hat sich in den vergangenen sechs Jahren zwar schneller verändert als in den 175 Jahren zuvor. Und es geht im gleichen Tempo weiter.» Bestehen könne man den Wandel nur, wenn man zugleich die journalistische Qualität halte oder sogar verbessere. Das gelte sowohl für Qualitätszeitungen wie die F.A.Z. als auch für den Boulevard. «Alles, was irgendwo dazwischen hängenbleibt, bekommt ein Problem.»
Investitionen in Afrika
Ringier habe das Glück, signifikante digitale Einnahmequellen jenseits des klassischen Journalismus erschlossen zu haben. Das verschaffe nun die nötige Handlungsfreiheit, um weiter in die journalistischen Marken zu investieren. «Wir sind ein Familienunternehmen und haben in den vergangenen sechs Jahren 1,4 Milliarden Franken in unsere Transformation investiert.» In einer vergleichbaren Situation sei in Deutschland nur Springer und damit der Verlag, mit dem Ringier in Osteuropa in einem Gemeinschaftsunternehmen verbunden ist. In der Führung des 50:50 Joint-Ventures verstehe man sich gut, man teile die gleichen Überzeugungen. Soeben erst hat man in Ungarn gemeinsam eine Online-Stellenbörse übernommen. Klar sei für Ringier stets, dass guter Journalismus die Basis von allem seien müsse, dass Zeitungen per se kein Auslaufmodell seien, die Leser aber erwarteten, auf allen digitalen Kanälen rund um die Uhr bedient zu werden. Und wer im Internet, zum Beispiel auf der Suche nach der schnellen Information zu einem aktuellen Thema, zwei Mal enttäuscht werde, sei als Leser vermutlich auch danach für die Marke verloren. Bei allem Investitionsdrang ist Walder derzeit aber nicht daran interessiert, sich zum Beispiel in Deutschland stärker zu engagieren. Interesse am deutschen Wirtschaftsmagazin Brand eins habe er nicht mehr. Die letzte große Auslandswette sei Ringier in Afrika eingegangen, wo man in fünf Ländern (Nigeria, Tansania, Senegal, Ghana und Kenia) elf Internetunternehmen besitze.