Persönlich

| 01.05.12 | Von

Perestrojka an der Dufourstrasse

Der 46-jährige Marc Walder hat den Ringier-Konzern in den letzten fünf Jahren mehr verändert als seine Vorgänger zusammen. Jetzt ist er als neuer CEO ganz oben angekommen. «persönlich» hat den langjährigen Tennisprofi, Journalisten und Verlagsmanager beobachtet.

«Ich führe als Manager so, als wäre ich selbst der Unternehmer. Nur das garantiert langfristigen Erfolg.»
Marc Walder / CEO Ringier AG

Wäre die Geschichte gewöhnlich verlaufen, so würde Marc Walder heute in einer Tennishalle ein paar verwöhnten Goldküsten- Kids die Vorzüge der Backhand erklären.

Doch es kam bekanntlich alles anders, und aus dem 46-jährigen Ex-Tennisprofi ATP-Platzierung 403 und zweifacher Schweizer Meister im Doppel — wurde kein frustrierter Sportlehrer, der von vergangenen Tagen und verpasstem Ruhm träumt, sondern einer der amtsjüngsten CEOs von Ringier. Zu verdanken hat er dies Tennislegende Heinz Günthardt, der ihm nach der aktiven Sportkarriere von der Gründung einer eigenen Tennisschule abriet. Nüchtern betrachtet: ein wegweisender Entscheid. 

Es ist Mittwoch, der 18. April, kurz nach zwölf Uhr. Der neue CEO ist in sein Büro im fünften Stock des Pressehauses zurückgekehrt. Wenige Minuten zuvor hatte er mit Verleger Michael Ringier im Parterre die traditionelle Jahrespressekonferenz abgehalten. Es war unvermeidlich: Statt über Betriebszahlen, Unternehmensstrategie oder den Newsroom drehte sich das Gespräch am Ende auch um Walders überraschende Berufung an die Verlagsspitze und den schnellen, ja überhasteten Abgang des einstigen Hoffnungsträgers Christian Unger kurz vor Ostern. Bereits wenige Minuten nach der Bekanntgabe wurde dessen Name ohne weitere Erklärung von der Homepage gelöscht. Der ideale Nährboden für Gerüchte. Verleger Michael Ringier hält auch nach mehrmaligem Nachhaken von Hanspeter Bürgin, einem der letzten Vertreter des Investigativ-Journalismus, daran fest: «Christian Unger wollte es so.» Schlussendlich ist es auch egal: Unger wurde in den letzten drei Jahren viel zu wenig wahrgenommen, um als medialer Märtyrer zu taugen. Oder noch einfacher: Höchstwahrscheinlich hat sich der abgetretene CEO durch die Auslandkooperation mit dem Axel-Springer-Verlag selbst überflüssig gemacht. Und so fokussiert sich das Interesse wieder auf Marc Walder, der vor allem eines ist: ein hauseigenes Erfolgsprodukt. 

Karrierestart als Kartonkleber

Mehr Ringier als bei Walder geht nicht: Während der letzten neunzehn Jahre hat er sich jenen Stallgeruch zugelegt, der für die Karriere und das Überleben innerhalb des Hauses unerlässlich ist. Wirft man einen Blick ins hausinterne Fotoarchiv RDB, so hat Walder sogar noch jenes Prädikat erworben, welches in einem Boulevardverlag unerlässlich ist: Er ist prominent. Mit über dreihundert registrierten Fotos übertrifft er Bundesrat Schneider-Ammann und zieht beinahe mit Medienpionier Roger Schawinski gleich, der seit bald vierzig Jahren im Geschäft ist. 

Dabei sah es nach Abschluss der Tenniskarriere beruflich gar nicht gut aus. Mit Journalismus hatte Walder überhaupt nichts am Hut, obwohl seine Grossmutter fand, dass er eigentlich ganz passabel schreiben könne. 

Eine Bekannte verschaffte einen Kontakt zu Ringier. Unter der Ägide der damaligen Verlagsleiterin Maili Wolf klebte er für 1 300 Franken monatlich in der Zeitschriftenabteilung Karton. Nach einem dreimonatigen Praktikum beim Blick kletterte er — gefördert vom ehemaligen Chefredaktor Fridolin Luchsinger und der Sportikone Roger Benoit — die ganze Karriereleiter hoch: Unterhaltungschef, Nachrichtenchef, Leiter des Nachrichtendesks. Später stellvertretender Chefredaktor des SonntagsBlicks, Sportchef und während sechs Jahren Chefredaktor der Schweizer Illustrierten, für Walder «die schönste Zeit». Zwei Jahre später die journalistische Krönung: Chefredaktor des Flaggschiffs SonntagsBlick, bevor er nach kurzen zwei Jahren ins Management wechselte. Nach einer viermonatigen, aber sehr intensiven Businessausbildung an der Harvard University wurde er operativer Leiter des Ringier-Geschäftes Schweiz-Deutschland. Und jetzt ganz oben: Herr von 7500 Mitarbeitern, in einem Reich, in welchem die Sonne auch niemals untergeht. Walders Vater, ein Architekt aus dem sanktgallischen Goldach, kommentierte den rasanten Aufstieg seines Sohns am Telefon nüchterner: «Sehr gut, und wie geht es mit dem FC St. Gallen weiter?» Bei so viel Coolness verstummte sogar Walder junior. «Mein Vater», meint er, «ist mein Vorbild. Eigentlich wollte ich immer Unternehmer werden. Da mir dies nicht gelungen ist, führe ich als Manager so, als wäre ich selbst der Unternehmer. Nur das garantiert langfristigen Erfolg.» 

Vorzeigebeispiel einer Tellerwäscherkarriere

«Ganz ehrlich, Herr Walder, wird Ihnen nicht manchmal schwindlig, wenn Sie zurückschauen?» Walder überlegt kurz: «Schwindlig wird es einem nur, wenn man sich weit oben wähnt und tief runterschaut. Ich fühle mich aber nicht oben bei Ringier, sondern einfach mittendrin.» Und er besteht darauf, dass er im Herzen eigentlich immer noch Journalist geblieben sei. 

Mittlerweile führt Walder bereits wieder ein Leben wie ein Spitzensportler: Ein Termin jagt den andern, dazwischen noch schnell ein Birchermüesli. Unser Gespräch ist genau auf dreissig Minuten terminiert, anschliessend geht es weiter zur Personalkommission. Ein kurzer Blick in Walders Schaltzentrale: der Schreibtisch aufgeräumt, an den Wänden teure Ringier-Kunst, im Büchergestell ein paar Wirtschaftsbücher und Lexika. Darüber — sorgfältig gerahmt — der Originaltitel der ersten Blick-Ausgabe, daneben Familienfotos mit Ehefrau Susanne Timm und seinen beiden Töchtern, der vierzehnjährigen Coralie aus erster Ehe und der knapp vierjährigen Norah, die er mit Susanne, ebenfalls Journalistin, hat. Sorgfältig buchstabiert er die Namen. Als ehemaliger Boulevardjournalist weiss er: Namen sind das Wichtigste. Gibt es sonst noch ein Erfolgsprinzip? Der Angesprochene überlegt kurz, bevor er an seinem Mineralwasser nippt: «Diszipliniertes Denken.» Dafür ist sein Freund, Fernsehlegende Kurt Felix, gesprächiger. Für ihn ist Walder — Ostschweizer wie er — «das Vorzeigebeispiel einer echten Tellerwäscherkarriere». So sei Walder anfänglich bei Ringier immer unterschätzt worden. Und jetzt habe er alles erreicht. Seine Strategie: Schritt um Schritt, doch auf leisen, aber sicheren Sohlen nach oben. Kein arroganter Besserwisser, mehr einer, der genau zuhört, um es anschliessend wirklich besser zu wissen. Learning by doing im Selbststudium. Was Walder definitiv nicht ist: ein Blender, ein Grossrhetoriker oder gar Schönling. Aber auch nicht nur ein «nice guy», worauf ihn der Tages-Anzeiger vor einigen Jahren reduzierte. Das wäre auch viel zu banal: Im Zweiergespräch kann Walder hohe Selbstironie zeigen: «Sie haben mich sicher wegen meiner Locken erkannt», meint er vor Kurzem gegenüber einem Unbekannten, der ihn auf der Strasse fragend ansah.

Die Neider orteten hinter Walders schwindelerregendem Aufstieg lange die Tennisbekanntschaft mit Michael Ringier, auch er ein ehemaliger Spitzenspieler. Doch solche Anwürfe sind zu fadenscheinig und auch viel zu kurz gegriffen. Walders Erfolgsgeheimnis ist vielschichtiger: Er kennt das Verlieren.
So widersprüchlich es klingt: Diese Tatsache macht ihn stärker. 

Prestigeprojekt Newsroom

Während seiner zehnjährigen Tenniskarriere ist er durch die ganze Welt gereist, in der Hoffnung auf den grossen Durchbruch, damals noch mit rotblonden Haaren und blasser Haut. Das Tennisbusiness sei oft deprimierend, wenn man kein Boris Becker oder Roger Federer sei, erinnert er sich. Anstatt in einer Hyatt-Suite nächtigte der Jungprofi aus dem sanktgallischcn Hinterland in Zweisternehotels, wobei er die Bettwäsche selbst organisierte. Das damalige Preisgeld: 375 Dollar, Groupies gab es keine. Was heute nach romantischer Verklärung klingt, war damals zu wenig zum Leben und zu viel zum Sterben. Dafür zum Trost eine äusserst knappe Niederlage gegen Yannick Noah, dem damaligen Weltranglistenvierten. Spä-ter reichte es sportlich aber doch noch zum ganz grossen Coup: Journalistenweltmeister in Österreich. Zusammen mit Verleger Michael Ringier. «Rückblickend gesehen», bilanziert Walder, sei er doch lieber Marc Walder als Yannick Noah. Als abgehalfterter Ex-Star durch Discotheken und Clubs zu tingeln und von vergangenem Ruhm zu zehren, läge ihm nicht. Das Sportlerleben habe Walder stark gemacht, sagt ein guter Bekannter.

Und vor allem immun gegen Selbstmitleid und Selbstzweifel. So könne er einem die unangenehmsten Wahrheiten erzählen, ohne dass man es ihm übel nehme. Als er vor zwei Jahrcn als Schweiz-Chef gegen viele Widerstände sein Prestigeprojekt, den Newsroom, durchboxte, musste er viele gestandene Mitarbeiter entlassen. Doch Walder konnte bei den Betroffenen sogar noch in dieser Situation Verständnis erzeugen — eine seltene Qualität. Der Newsroom, bereits vor dessen Eröffnung für gescheitert erklärt, existiert noch immer trotz einer anfänglichen Personalfluktuation von achtzehn Prozent im ersten Jahr. Fazit nach zwei Jahren: Der Blick konnte wieder zulegen, während der SonntagsBlick massiv an Auflage verlor. Der Blick am Abend — Walders publizistisches Gesellenstück — erfreut sich unter der Regie von Chefredaktor Peter Röthlisberger grosser Beliebtheit. Die Kritik am Newsroom — zu anonym und auch zu arbeitsintensiv — kennt er und hält sie teilweise sogar für legitim. 

Doch der Journalismus habe sich gewandelt Die Zeiten, in denen man als Schreiber mit sechzig Zeilen pro Tag bei gleichzeitiger Verweigerung den neuen Medien gegenüber zufrieden sein konnte, seien definitiv vorbei, sagt der ehemalige Chefredaktor Walder.

Was man heute benötige, sei Flexibilität und Belastbarkeit bei noch grösserer journalistischer Kompetenz. Und wer dies alles mitbringe, der könne auch Karriere machen. 

Dann spricht aus Walder wieder der Manager: «Ich wüsste auch nicht, wie wir während vierundzwanzig Stunden an sieben Tagen pro Woche für vier Medien Print und Digital zu einigermassen passablen Kosten produzieren könnten. Ganz zu schweigen von den neun verschiedenen Apps, die ebenfalls exzellent bewirtschaftet werden müssen.» 

Der grosse Wechsel

Was unterschätzt wird: Marc Walder hat den 179 Jahre alten Medienkonzern in den letzten beiden Jahren massiv umgekrempelt: ein Gorbatschow der Dufourstrasse. Oder pointierter formuliert: Ringier hat sich auch ein bisschen Walders Visionen ausgeliefert. Von der interessierten Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt, erfindet sich der Unterhaltungskonzern an der Dufourstrasse momentan ganz neu. Ob der WM-Fight von Wladimir Klitschko am 7. Juli im Stade de Suisse, die Tour de Suisse, die Super League des Schweizer Fussballs, Madonna im Letzigrund, die Kandidatur für die Olympischen Winterspiele 2022 — immer mischt Ringier mit. Standen die Neunzigerjahre und die Jahrtausendwende im Zeichen der Auslandsexpansion, so ist die Jetztzeit durch einen grundlegenden Konzernumbau geprägt. «In den vergangenen fünf Jahren hat sich Ringier mehr verändert als je zuvor», bilanziert Verwaltungsratspräsident Michael Ringier an der Medienkonferenz. «Früher hatten wir ein einziges, grosses Gebäude an der Shoppingmeile des menschlichen Alltags — heute besitzen wir sozusagen eine ganze Ladenzeile und schütteln den Menschen statt einmal täglich nun mehrfach die Hand.» Dass dabei vor allem Deutsche an der Spitze sind, stört Walder nicht. «Auch Martin Kall, der wohl grösste Veränderer der Schweizer Medienszene, kommt aus dem Norden.» Was Walder nicht sagt: Gerade seine Ernennung an die Verlagsspitze ist der beste Beweis, dass an der Dufourstrasse auch wieder personelle Swissness gefragt ist.

Harvard als Grundstein

Die theoretischen Grundlagen holte sich Walder bei seinem viermonatigen Harvard-Aufenthalt im Jahre 2007. Der frisch gekiirte Ringier-Schweiz-Chef besuchte das «Advanced Executive Management Programm», die Prestige-Ausbildung der Harvard Business School, und war von der dort dozierten «Va-1ue-Chain» fasziniert, von der Lehre also, die Wertschöpfungskette konsequent zu erweitern, und vor allem: sie zu beherrschen. 

Auch die Erfahrungen bei der Schweizer Illustrierten waren für ihn — dem Zeitschriften-Chef sei Dank — Beweis genug, dass eine Zeitschrift längst nicht mehr nur eine Zeitschrift sein muss, sondern auch ein Ticketverkäufer oder Konzertpromotor. Seitdem ist Walder der festen Ansicht: So kann ein Verlagshaus wieder wachsen. 

Cicero und Hundefutter

Zurück in der Schweiz, hat Walder die entscheidenden Personen von seinen Visionen überzeugt und den ganzen Konzern innerhalb der letzten fünf Jahren zn einem Gemischtwarenladen umgekrempelt: Längst handelt Ringier nicht mehr nur mit Zeitungen und Zeitschriften, sondern auch mit Sportrechten, Konzerttickets, Fernsehspots, Betty-Bossi-Produkten und sogar Hundefutter. Das ganze Haus basiert auf den drei Säulen: traditionelles Geschäft, digitales und Entertainment. Das Zauberwort heisst Diversifikation. Beim Berner Klitschko-Fight von Anfang Juli dominiert Ringier die ganze Verwertungskette. So vermarkten und kommentieren die hauseigenen Medien nicht nur den Wettkampf und heizen den Vorverkauf an, das Verlagshaus vertreibt auch noch die Billets über die hauseigene Ticketagentur und organisiert das Vorkonzert mit dem Berner Superstar GöIä, welches von Satt-Schweiz, an welchem Ringier beteiligt ist, aufgezeichnet werden dürfte. Dass dabei daraus auch noch Tonträger gekoppelt werden, versteht sich von selbst. Und dass diese von Radio Energy, welches ebenfalls zum Konzern gehört, rauf- und runtergespielt werden, auch. 

Werden, Sein und Vergehen — alles in Ringier-Hand: Manchmal ist der Weg von Cicero zum Chappi kürzer, als man denkt. Doch bei aller Euphorie ist die ganze Entwicklung nicht ganz unproblematisch: Kann ein Unterhaltungskonzern überhaupt noch kritisch~n und unabhängigen Journalismus betreiben, wie es Walder vorschwebt? Was passiert, wenn Gölä bei seinem Berner Konzert grottenschlecht ist? Und vor allem, was geschieht, wenn dies der Blick-Reporter auch findet und in seiner Zeitung schreiben will? «Dann wird er es schreiben. Und der Chefredaktor wird für den Titel die grossen Buchstaben auspacken», so Walder. Die journalistische Freiheit stehe über allem, so sein Credo.

«Wie lange trinken Sie noch Espresso?»

Überhaupt war dieser viel beachtete Wandel des Ringier-Hauses nur möglich, weil die Verlegerfamilie seine Ideen stets mitgetragen habe, weiss Walder. Und ein bisschen stolz ist er auch, dass nun ausgerechnet die renommierte Harvard-Universität den ganzen Verlagsumbau als real existierende Case-Study untersucht — als staunten die klugen Theoretiker in Bostons Kaderschmiede selbst darüber, wie man ihre klugen Gedanken in der fernen Schweiz in die Realität umsetzt. Nimmt man das Betriebsergebnis von, 2011 als Massstab, so stockt das ganze Geschäft noch ein bisschen: Bei einem Gesamtumsatz von 1,1 Milliarden Franken resultierte für Ringier 2011 lediglich ein Gewinn von 22,8 Millionen Franken. «Der hohe Franken und die Druckereien haben uns einen dicken Strich durch die Rechnung gemacht», sagt Walder. «Die nächsten Jahre wird es besser werden.» Zweifel daran dürfte er keine haben. Eine letzte Frage drängt sich noch auf: «Herr Walder, wie lange trinken Sie noch einen Espresso mit Frank A. Meyer?» Gemeint ist die wöchentliche Gesprächsreihe in der Schweizer Illustrierten, in welcher Walder den mittlerweile in Berlin lebenden Chetjournalisten des Hauses zu aktuellen Themen wie Frauenquote, FDP-Misere oder Ausländerkriminalität befragt. Walder: «Die Gespräche mit FAM dienen der Reflexion, sind mein wöchentlicher Bezug zum Journa-1ismus.» Vielleicht müsste man die Frage auch anders stellen: Wie lange dauert es, bis der erste Journalist des Hauses endlich seinen CEO interviewt?